Enttäuschte Hoffnung
Nur wenige Wochen vor dem Opferfest Eid al-Adha kam es mitten in der Hauptstadt Tripolis zu schweren Straßenkämpfen zwischen rivalisierenden Milizen. Die Auseinandersetzungen waren die heftigsten seit Langem – und sie sind noch nicht beendet. Sie erschütterten die Bevölkerung zutiefst, da sie die Fragilität jener Sicherheit offenbarten, die Premierminister Dbaiba seit seiner Amtsübernahme 2021 versprochen hatte. Gleichzeitig wird deutlich: Ohne funktionierende staatliche Institutionen und demokratisch legitimierte Strukturen ist nachhaltige Sicherheit in Libyen nicht möglich. Doch die politischen Eliten halten aus Angst vor Machtverlust am Status quo fest. Anstatt Kompromisse zu suchen, sichern sie ihre Macht durch die Kontrolle von Milizen, mittels wirtschaftlicher Patronagenetze und institutioneller Einflussnahme. Während Premierminister Dbaiba Schlüsselposten mit Verwandten und loyalen Geschäftsleuten besetzt, verankert Haftar seinen Einfluss zunehmend über formelle staatliche Strukturen.Seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis leidet Libyen unter anhaltender Instabilität und politischer Spaltung. Zwar wurde 2021 nach internationaler Vermittlung eine Einheitsregierung unter Abdul Hamid Dbaiba eingesetzt; doch die geplanten Wahlen blieben aus, und die politische Blockade dauert bis heute an. In Westlibyen kontrolliert die international anerkannte Regierung mithilfe verschiedener Milizen lediglich einen Teil des Landes. Im Osten beherrscht General Haftar mit seiner „Nationalen Armee“ rund zwei Drittel des Landes, unterstützt vom Parlament und einer Parallelregierung unter Osama Hamad. Zudem beeinflusst Haftar über Verbündete im Hohen Staatsrat sowie über militante Gruppen im Westen auch die politische Agenda und die Sicherheitslage im gesamten Land.Die formale Einbindung westlibyscher Milizen in staatliche Strukturen führte dazu, dass der Staat von den Milizen unterwandert, geplündert und kontrolliert wird.Die formale Einbindung westlibyscher Milizen in staatliche Strukturen – etwa in das Verteidigungs- und Innenministerium – galt ursprünglich als sicherheitspolitische Reformmaßnahme. Dieser Ansatz führte jedoch dazu, dass der Staat von den Milizen unterwandert, geplündert und kontrolliert wird. Vor diesem Hintergrund sollten die wiederholt eskalierenden Auseinandersetzungen in Tripolis nicht als Einzelfälle, sondern als Ausdruck eines systemischen Machtkampfs zwischen konkurrierenden Interessen verstanden werden. Die jüngste Eskalation in Tripolis ist ein gutes Beispiel dafür, nur einen Tag nach der Ermordung des einflussreichsten Milizenführer Abdel Ghani al-Kikli, besser bekannt als „Ghnewa“. Seit 2021 war er Anführer des umstrittenen „Stabilitätsunterstützungsapparats“ und galt als wichtiger Unterstützer der Regierung Dbaiba. Als Gegenleistung durfte er, trotz seiner kriminellen Vergangenheit, bedeutende staatliche Machtpositionen mit loyalen Personen besetzen und sich Zugang zu öffentlichen Ressourcen verschaffen. Er platzierte Vertraute in Ministerien, der Zentralbank sowie in strategisch wichtigen Staatsunternehmen – insbesondere im Öl- und im Telekommunikationssektor. Damit bestimmt er über Gesetze und Regelungen, die das Leben der Menschen stark beeinflussen – etwa in der Geldpolitik, bei den Frauenrechten oder im Bereich der Zivilgesellschaft.Premierminister Dbaiba stellt die Ereignisse als legitime Sicherheitsmaßnahme dar, doch in Wahrheit deutet vieles auf einen internen Machtkampf mit Ghnewa hin. Dieser war zu einflussreich geworden und forderte Macht und Ressourcen – eine zunehmende Bedrohung für Dbaiba und seine anderen unterstützenden Milizen. Zuletzt versuchte Ghnewa, sich mittels Gewalt mehr Einfluss auf die Telekommunikations-Holdinggesellschaft zu verschaffen, indem er deren Präsidenten – eine Dbaiba nahestehende Person – entführte. Der Grund, warum Milizenführer wie Ghnewa und andere so einflussreich geworden sind, ist das Fehlen einer funktionsfähigen Regierung, eines unabhängigen Justizsystems und jeglicher Rechenschaftspflicht. Internationale Organisationen haben wiederholt Menschenrechtsverletzungen in Libyen dokumentiert – strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen blieben jedoch aus. Stattdessen konnten sie noch mehr Macht gewinnen. Auch Dbaiba selbst griff zu Gewalt, um Ghnewas Machtambitionen einzudämmen, anstatt ihn durch die Justiz zur Rechenschaft zu ziehen.Die Ausschaltung Ghnewas hätte ein Signal für mehr staatliche Kontrolle sein können – doch an seine Stelle rücken nun andere problematische Milizen. Dbaiba ist auf sie angewiesen, um sich vor Vergeltung durch Ghnewas Verbündete zu schützen. Wie schon zuvor ist ihre Unterstützung an hohe Gegenleistungen geknüpft. Aufgrund des Bruchs mit Ghnewa hat Dbaiba zudem das Vertrauen wichtiger Unterstützer verloren. Das macht ihn angreifbarer und zwingt ihn, neue Loyalitäten teuer zu erkaufen. Auch in der Bevölkerung wurde Dbaibas Darstellung nicht als glaubwürdig wahrgenommen. Viele machten ihn direkt für die anhaltende Gewalt und die wiederkehrenden Kämpfe verantwortlich und gingen – so zahlreich wie lange nicht mehr – in Tripolis auf die Straße, um seinen Rücktritt zu fordern. Diese Wut auf ihn ist jedoch keineswegs neu. Denn auch nach vier Jahren im Amt ist es der Regierung Dbaiba nicht gelungen, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten oder Wahlen zu organisieren. Ebenso blieb eine Verbesserung der sozioökonomischen Lage aus – obwohl Libyen über immense Ölressourcen verfügt. Rund 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, etwa 20 Prozent sind arbeitslos. Vielerorts fehlt es an Strom und funktionierender Infrastruktur. Staatliche Schulen und Krankenhäuser sind unterfinanziert und überlastet, während die politische Elite – im Westen wie im Osten – weiterhin auf Machterhalt und persönliche Bereicherung mittels Korruption setzt.Wie in früheren Krisen nutzt General Haftar auch diesmal die Gelegenheit, um seinen Einfluss auf ganz Libyen auszubauen. Im Westen unterstützt er gezielt oppositionelle Kräfte, um Dbaibas ohnehin geschwächte Regierung weiter zu destabilisieren. Haftar hingegen hat seit dem gescheiterten Angriff auf Tripolis 2019 seine Macht konsolidiert – militärisch über das Nationale Militär, wirtschaftlich über seine Söhne, die zentrale Ressourcen kontrollieren. Dazu gehören der Entwicklungs- und Wiederaufbaufonds Libyens sowie Ölproduktion und -export. Nicht zuletzt bewilligte das Parlament Anfang Juni ein Sonderbudget von 12,71 Milliarden US-Dollar für diesen Fonds – unter der Leitung eines Haftar-Sohnes und außerhalb des regulären Haushalts.Seit den gescheiterten Wahlen 2021 herrschen in Libyen politischer Stillstand und wachsende Frustration in der Bevölkerung, die auf einen Neuanfang und ein Ende der Machtwillkür hofft.Krisen bringen auch Chancen auf Veränderung mit sich. Seit den gescheiterten Wahlen 2021 herrschen in Libyen politischer Stillstand und wachsende Frustration in der Bevölkerung, die auf einen Neuanfang durch freie Wahlen, auf Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Machtwillkür hofft. Doch auch in dieser Krise droht diese Hoffnung erneut enttäuscht zu werden. Die konkurrierenden Akteure profitieren vom Stillstand und stellen sich gegen Wahlen oder Reformprozesse, die ihre Machtposition gefährden könnten. In dieser Konstellation ist es unwahrscheinlich, dass die jüngsten Entwicklungen zu einem grundlegenden Wandel führen. Der Kampf um Tripolis und die Beute der rivalisierenden Milizen dürfte weitergehen, bis eine Einigung über die Verteilung von Macht und Ressourcen erzielt wird. Selbst die Proteste gegen Dbaibas Regierung haben nachgelassen. Viele sehen Dbaiba als das geringere Übel und fürchten eine militärische Machtübernahme durch Haftar in Tripolis.Die Europäische Union und Deutschland spielten nach 2020 eine zentrale Rolle in der libyschen Politik – vor allem im sogenannten Berliner Prozess, aus dem die Regierung Dbaiba hervorging. Gemeinsam mit regionalen „Spoilern“ setzten sie seitdem auf Deeskalation, die Stärkung der international anerkannten Dbaiba-Regierung und auf die Wiederaufnahme eines Wahlprozesses. Doch ohne wirksamen Druck auf sämtliche politische Akteure – insbesondere auch auf Dbaiba selbst – drohen diese Bemühungen erneut zu scheitern. Symbolische Maßnahmen wie die Bildung von Krisenausschüssen durch den Präsidialrat, die von der UN-Mission (UNSMIL) begrüßt wurden, greifen zu kurz. Sie adressieren nicht die strukturellen Ursachen der anhaltenden Instabilität. Solange Libyen von State Capture, Milizenherrschaft und institutioneller Fragmentierung geprägt ist, bleiben rechtsstaatlich organisierte und friedliche Machtübergänge eine Illusion.Ein nachhaltiger politischer Wandel in Libyen ist an strukturelle Voraussetzungen gebunden: den Aufbau funktionsfähiger staatlicher Institutionen, die Stärkung rechtsstaatlicher Sicherheitskräfte sowie die gezielte Schwächung klientelistischer Netzwerke. Notwendig sind zudem glaubwürdige Schritte hin zu freien und fairen Wahlen – eingebettet in einen transparenten und verbindlichen Übergangsprozess. Die internationale Gemeinschaft sollte eine Frist für die Durchführung freier und fairer Wahlen setzen – bei Nichteinhaltung müssten diplomatische Konsequenzen folgen, bis hin zum Entzug der Anerkennung der Regierung. Gegen Milizenführer, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, sollten Verfahren eingeleitet werden. Die Mechanismen internationaler Strafverfolgung – einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs – müssen eng mit libyschen Justizbehörden kooperieren. Parallel dazu bedarf es gezielter Sanktionsinstrumente: Einreiseverbote, Vermögenssperren, wirtschaftliche Strafmaßnahmen und ein wirksames Waffenembargo. Gleichzeitig sollte die internationale Gemeinschaft ihre diplomatischen, logistischen und technischen Bemühungen zur Förderung demokratischer Wahlen verstärken.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal